26/7/2024
Stammtische
Editorial
Erste Anlaufstelle: Wirtshaus
Wie lokale Wirtshauskultur neu gelebt werden kann, führt im Bregenzerwald der Adler in Grossdorf jeden Sonntag aufs Neue vor - als „Sonntagsgasthaus“.
Text:
Magdalena Mayer

Im Wirtshaus bekommt man nicht nur Essen und Trinken. Hier trifft man einander, manche schauen rein und bleiben hängen, andere suchen Vertrautes und finden Begegnungen. Doch was, wenn solche Orte am Land schwinden? Wie lokale Wirtshauskultur neu gelebt werden kann, führt im Bregenzerwald der Adler in Grossdorf jeden Sonntag aufs Neue vor: Als „Sonntagsgasthaus“, in dem neben Gästen auch viele der Sachen zusammenkommen, die diese Institution Wirtshaus ausmachen.

Alte Thonetstühle, eine holzvertäfelte Stube: Der „Adler“ in Grossdorf strahlt seine 300-jährige Geschichte als Gasthaus allein schon optisch aus, auch im renovierten Zustand. Spätestens, wenn der urige Boden aus Fischgrätenparkett knarzt, spürt man, wie viele Male hier gespeist, getrunken und geplaudert wurde. Trotzdem stand das prachtvolle Gasthaus im Bregenzerwald zwischenzeitlich leer, und mehrere Versuche, es wieder mit Gerichten und Leben zu füllen, scheiterten.

Irma Renner spazierte damals oft an dem traditionellen Haus vorbei, bis sie ihr Herz an das leerstehende Gebäude verlor. Sie dachte: Was passiert damit, wenn wie so oft am Land keine Nachfolger:innen für solche Gastwirtschaften gefunden werden? Auch wenn die Bregenzerwälderin zu diesem Zeitpunkt noch keine Gastronomin war – sie arbeitete in der Hotellerie und später im Produktmanagement und Marketing –, stand für sie fest: Ein so schöner Ort, der mehr als die Summe der Speisen und Getränke auf der Karte ist, darf nicht verlorengehen. Als eine mit ihr befreundete Familie den „Adler“ also schließlich kaufte und sich von Renner beraten ließ, wie man ihn als Wirtshaus erhalten und führen könne, ergab sich schnell, dass sie selbst ein neues Nutzungskonzept ersann und ausprobieren wollte. Das war vor rund zehn Jahren. Seitdem öffnet Renner einen einzigen Tag in der Woche, nämlich immer sonntags, mit nur einem Menü auf der Karte – und kann diese Neubelebung der Wirtshauskultur als Erfolgsgeschichte verbuchen. Am Interesse der Gäste und Gastköch:innen, die jede Woche aufs Neue aus nah und fern eintrudeln, ist offensichtlich, was Renner schon zu Beginn ihres Sonntagsgasthauses klar war: Es braucht solche einmaligen Orte, die zwischen Traditionellem und neu gedachter Passion das Bedürfnis einer gelebten Wirtshauskultur befriedigen.

Auf wenig einlassen, viel bekommen

Ein Wirtshaus kann vieles sein, doch in seiner Essenz ist es ein vorhersehbarer Ort, der bekannte Routinen des Treffens und gemeinsamen Speisens und Trinkens ausstrahlt, sobald man ihn betritt. Dieses Wesen der Wirtshauskultur ging auch bei Irma Renner nicht verloren, als sie beschloss, allein sonntags aufzusperren: Wenn bei ihr offen ist, ist immer etwas los, dann lässt sich umso mehr bemerken, wie wohltuend solch ein gewissermaßen „zweites Wohnzimmer“ in einem Ort sein kann. Wenn Renner dabei mit einem reduzierten Angebot zu strikt beschränkten Öffnungszeiten auf das Prinzip „weniger ist mehr“ setzt, entspricht das einer Unaufgeregtheit, die womöglich gerade heute in der Gesellschaft öfter guttut: Ein wohltuender Kontrapunkt zum „cognitive overload“ unserer Zeit, unseren durchgetakteten Kalendern und einem Überangebot. „Es ist total aufgegangen, dass sich unsere Gäste auf dieses Konzept einlassen, dass sie nicht à la carte aussuchen können. Im Normalfall sind sie begeistert, weil die Atmosphäre schön und familiär ist und das Essen schmeckt. Und sie sind froh, wenn sie einmal in der Woche keine Entscheidung treffen müssen und sich auf uns verlassen können“, sagt Renner, die sich an einfachen Wirtshäusern orientiert, wo alle wirklich das Gleiche essen und denselben Wein trinken.  

Dass ein Wirtshaus als so eine vertraute Anlaufstelle – in der nicht überfordert, was auf den Tisch kommt – genauso ein wandelbarer Ort sein kann, auch das führt Renner vor. Die Wirtin ist der Meinung, dass man sich mittlerweile mehr einfallen lassen muss, als einfach die Türen zu öffnen: Das Gesamtpaket ist es, das die Stube füllt. Neuen Input will sie über die Einladung von Gastköch:innen einbringen, die bei ihr immer wieder mit an Bord sind und neben dem gewachsenen Team rund um sie und ihren Chefkoch Jodok Dietrich den Speiseplan mit Ideen erweitern. Was nicht heißt, dass nicht Regionales wie zuhause auf dem Plan stehen kann – der „Adler“ startete mit Braten von Hausfrauen aus der Gegend. Aber was dann letztlich auf den Tisch kommt, steht hier nicht seit Ewigkeiten in fettbefleckten Karten festgeschrieben, sondern soll vielmehr eine spontane Antwort auf eine Überlegung sein, die in vielen Haushalten sonntags gemacht wird: Worauf haben wir Lust? Gerade auch mit dem Sonntags-Konzept will der „Adler“ gewandelten Zeiten entsprechen. „Es geht heute nicht mehr, dass man einfach wartet, bis jemand reinkommt“, ist Renner überzeugt: Bei ihr spontan an einem beliebigen Tag aufkreuzen ist zwar dadurch nicht mehr möglich, doch eines kann man, wenn dann offen ist, durchaus: hängen bleiben, sich vertratschen, Geschichten aufsaugen – die der Tischnachbarn, und ganz besonders diejenigen, die mit dem Menü serviert werden.

Begegnungen und Rituale

Hier geht es nicht darum zu wissen, wie man die Teller korrekt auf den Tisch stellt. Wichtiger sind im „Adler“ andere Dinge: Dass man sich über das Leben austauscht, oder auch über Kunst, die Renner durch ihren damaligen Mann, den Künstler Paul Renner, schätzen lernte. Dass ein Wirtshaus auch immer den Charakter der Wirtin oder des Wirts ausdrückt, merkt man im „Adler“ besonders: an Renners Faible für Italien etwa. Die Menüs der Woche verpackt sie in Geschichten, die sie mit einem Newsletter ausschickt: Erzählungen aus Ligurien, wenn der kulinarische Wochenendausflug in diese Region geht. Rund hundert Gäste bewirtschaftet der „Adler“ an einem Sonntag, inzwischen ist auch Samstagabend offen. Ebenso ist eine Wohnung über der Stube wieder vermietet, eine Bar im großen Haus offen, im Stall sind wieder Kühe, erzählt die Wirtin. Im Haus ist längst wieder Leben eingekehrt. Bewohner:innen von Grossdorf schauen „vor und nach der Kirche auf Kaffee, ihr Achterl oder Bier“ vorbei, sagt sie und fügt hinzu: „Sonntag ist natürlich ein Tag, wo man normalerweise Zeit hat. Das heißt, Gäste kommen und zelebrieren das Essen.“ Nicht selten würden sie mehrere Stunden sitzenbleiben. Wie toll, findet Renner, und wichtig, dass man gerade am Sonntag in der Freizeit die Möglichkeit hat, ein offenes Gasthaus zu finden. Ohne Ablenkung zusammenkommen und ins Gespräch kommen: So ein Wirtshaus ist verlässlich für alle da, für Begegnungen und Rituale im Dorfalltag. Erhält man also Wirtshäuser, dann bewahrt man auch diese Möglichkeiten, meint Renner: „Das Wirtshaus hat so viel Potenzial. Man kann sich an einen Tisch setzen, bekommt gutes Essen, erlebt neue Geschmäcker. Es wird geredet und gelacht. Es ist nicht anonym und man nimmt sich Zeit. Das ist schon sehr schön.“