30/5/2024
Jugend & Pop-Up
Editorial
Das Wirtshaus als gesundheitspolitische Maßnahme
Die Politikwissenschaftlerin Barbara Prainsack setzt sich mit der Frage auseinander, wie wir in Zukunft arbeiten werden – in allen Branchen, und somit auch in der Gastronomie.
Text:
Barbara Prainsack | Interview: Martha Miklin

Dass man eher über eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen als über eine für alle verpflichtende 4-Tage-Woche nachdenken sollte, dass sich das Verschwinden des Wirtshauses auch negativ auf die Gesundheit der Menschen auswirken kann, und was man heute schon tun könnte, damit die Wirtshauskultur wieder floriert, führt sie im Interview aus.

Das Wirtshaus wird oft als Spiegel der Gesellschaft bezeichnet, als Ort, in dem sich das Große im Kleinen spiegelt: Hier werden Themen und Themenkomplexe sichtbar, die auch auf einer größeren Ebene eine Rolle spielen. Ein konkretes Thema ist der Fachkräftemangel. Welche Gründe gibt es dafür?

Dazu fallen mir drei Dinge ein: Erstens gibt es in manchen Gegenden und Branchen einen Fachkräftemangel, während es andernorts alle Arbeitskräfte und nicht nur Fachkräfte betrifft. Zweitens kann die Rekrutierungskrise zum Teil als Wertschätzungskrise beschrieben werden. Manche Arbeitgeber:innen können es sich nicht leisten, mehr zu zahlen, was sie aber tun müssten, um den Job attraktiv zu machen – andere könnten es zwar, wollen es aber nicht. Bei den Arbeitnehmer:innen kommt das als mangelnde Wertschätzung an. Und dann gibt es natürlich auch Regionen, wo es die Fachkräfte gar nicht gibt – unabhängig von Bezahlung und Arbeitsbedingungen. Die Gründe für den Arbeits- und Fachkräftemangel sind vielschichtig.

Das Wirtshaussterben sei nicht mehr aufzuhalten, heißt es. Was würde passieren, wenn es keine Wirtshäuser mehr gäbe?

Es hat sozialen und in manchen Fällen sogar gesundheitlichen Wert, wenn es einen Ort gibt, an dem die Leute zusammenkommen können und um nicht wahnsinnig viel Geld einen Kaffee trinken oder auch warm essen können. Gasthäuser und Kaffeehäuser sind öffentliche Räume. Sie können Menschen vor Vereinsamung bewahren. Sie können Menschen, die allein leben oder verwitwet sind, davor bewahren, sich schlecht zu ernähren. Sie können mittelfristig sogar Kosten sparen helfen, da wir wissen, dass Einsamkeit krank machen kann.

Also könnten Wirtshäuser präventiv vor Folgeerkrankungen der Einsamkeit, wie Depressionen, schützen?

Vor allem außerhalb der Ballungsräume sind die Räume, die Kaffeehäuser und Gasthäuser darstellen, auch eine gesundheitspolitische Frage. Man kann sie daher auch als gesundheitspolitische Maßnahme sehen, im Sinne von Public Health. Und das sollte der öffentlichen Hand etwas wert sein, zum Beispiel in Form öffentlicher Zuwendungen. Wobei man hier auch relativieren muss, weil gerade Gasthäuser eine Geschichte haben als Orte, in denen Ausgrenzung, Belästigung und natürlich Alkoholmissbrauch stattfand. Man neigt manchmal dazu, diese Orte als inklusive, humanistische Orte zu idealisieren, was sie oft nicht waren. Aber sein sollten.

Gibt es neben finanziellen Zuwendungen auch andere Mittel, um Wirtshäuser als soziale Orte zu fördern?

Ja, gibt es. In Gemeinden, in denen es keine Kaffee- und Gasthäuser mehr gibt, könnte die öffentliche Hand zum Beispiel den Raum zur Verfügung stellen und die Miete begleichen. Und eine Person finanzieren, die ein paar Stunden in der Woche mithilft, um alles zu koordinieren. Dann könnte es ein Radl an Freiwilligen geben, die mitarbeiten. Das ist jetzt nur ein Beispiel unter vielen, mit dem man sicherstellen könnte, dass es die Gastronomie weiterhin gibt, dass sie finanzierbar wird und dass man auch andere Probleme damit löst – wie das der Vereinsamung, denn viele Menschen fühlen sich zum Beispiel in der Pension zur Untätigkeit verurteilt. Sie könnten auf diese Weise sehr viel zum Gemeinwohl beitragen.

Damit sprichst du einen wichtigen Punkt an, nämlich den der Sinnhaftigkeit. Eine sinnvolle Tätigkeit ist auch etwas, das die jüngere Generation heute sucht. Könnte man die durch diese Aufwertung der Gastronomie dann auch wieder anziehen?

Man könnte auch ganz groß denken und sagen: Gäbe es ein bedingungsloses Grundeinkommen, wäre es bestimmten Menschen auch möglich, solche Arbeit überhaupt zu tun. Das Wirtshaussterben ist kein triviales Phänomen, wobei ich fast Gastronomiesterben sagen würde, denn das Kaffeehaus ist auch betroffen. Es ist genauso ein wichtiger sozialer Ort.

Im Service, oder generell in den schlechter bezahlten Arbeitsbereichen der Gastronomie, arbeiten mehr Frauen. Sind diese Jobs auch deshalb schlechter bezahlt?

Ob etwas als Arbeit gesehen und wie es bewertet wird, hat nicht nur mit der Tätigkeit allein zu tun. Kochen ist ein gutes Beispiel. Wenn ich einen Kochkurs besuche, dann zahle ich dafür. Wenn ich zu Hause im Alltag koche, ist das unbezahlte Care-Arbeit. Und wenn jemand in einem Restaurant kocht, ist das eine bezahlte Tätigkeit. Wer die Arbeit tut, in welchem Kontext, und als wie wertvoll sie die Gesellschaft sieht, ist sozial geformt. Und es ist durchwegs so, dass jene Tätigkeiten, die historisch hauptsächlich von Frauen und unbezahlt gemacht wurden, heute nicht gut entlohnt werden.

Wie lässt sich das ändern?

Eine Möglichkeit wäre natürlich auch hier ein bedingungsloses Grundeinkommen, weil es dann jene Jobs nicht mehr gäbe, die so stressig, schlecht bezahlt oder anderweitig unangenehm sind, dass sie Leute nur machen, um zu überleben. Die Entlohnung und die Arbeitsbedingungen müssten sich dann so weit verbessern, dass Leute trotz ihres Grundeinkommens weiter im Job bleiben möchten. Das würde aber auch oft bedeuten, dass diese Arbeit nachhaltiger getan wird – dass es weniger Krankenstände und Kündigungen gibt. Nachhaltige Arbeit hat auch für Unternehmen Vorteile. Wobei gerade Leistbarkeit im Kleinunternehmer-Bereich schon ein Problem sein kann. Da müsste es Unterstützung geben. Ansonsten kann man darauf hoffen, dass die Geschlechterklischees gesellschaftlich aufgelöst werden, dass die Löhne und Kollektivverträge angeglichen werden. Ein weiterer oft gehörter Vorschlag sind Mindestlöhne, die wir in Österreich de facto über die Kollektivverträge haben. Auch bei den Überstunden ist ein Ungleichgewicht zwischen den Geschlechtern da. Freiwillig Überstunden zu machen muss man sich auch zeitlich leisten können. Über all diese Steuerungsinstrumente müsste man nachdenken. Dabei geht es mir nicht nur um Geschlechtergerechtigkeit, sondern darum, dass Arbeit fair bezahlt wird und die Arbeitsbedingungen so sind, dass man sie langfristig tun kann – und möchte.

Wäre die 4-Tage-Woche ein Modell für die Gastronomie und Hotellerie?

Ich bin kein Fan der gesetzlichen Durchsetzung einer 4-Tage-Woche. Ich glaube, dass es gut funktioniert in Unternehmen, die das freiwillig machen. Es gibt Beispiele von Hotels, die Arbeitszeiten verkürzt haben, ohne zusätzliche Leute anzustellen. Aber das kann man nicht erzwingen und das geht auch nicht überall. Letzten Endes muss es darum gehen, dass die Arbeitsbedingungen so sind, dass die Leute ihre Jobs auch über ihr Leben verteilt länger machen können. Manchmal liegt es an anderen Faktoren, aber oft sind auch die Arbeitsbedingungen so, dass die Leute nicht bis zum gesetzlichen Pensionsalter arbeiten können oder wollen. Daher muss es unser erstes Ziel sein, die Arbeit so zu gestalten, dass sie es können und wollen. Und dann immer noch zu sagen: ‚Die wollen nicht, weil sie faul sind‘, das bringt uns nicht weiter. Und das ist auch nicht wahr.

Was würdest du dir für die Debatte rund um das Thema Arbeit wünschen?

Ich wünsche mir zwei Dinge. Erstens: Dass die Diskussion empirisch fundierter ist. Dass man auch sieht, dass viele der Dinge, die den Arbeitnehmer:innen schaden, auch den Unternehmer:innen schaden. Und dass man aus diesem Lagerdenken rauskommt. Natürlich ist es wichtig, Machtverhältnisse nicht zu verschleiern. Was ich damit sagen will: Die Grenzen zwischen denen, die es schwer haben, und jenen, die profitieren, verlaufen nicht mehr klar entlang Arbeitgeber:innen und Arbeitnehmer:innen. Es gibt viele kleine Unternehmer:innen, denen es schlecht geht. Und es gibt Angestellte, die super verdienen. Und zweitens, glaube ich, sollte sich die Debatte darauf konzentrieren, wie man nachhaltiges Arbeiten ermöglicht. Dazu muss die Debatte über eine Verkürzung der Normalarbeitszeit entideologisiert werden. Wir müssen diese Debatte ohne Scheuklappen führen.

Wenn du von empirischen Fundamenten sprichst: Wäre es möglich, eine empirische Grundlage dafür zu schaffen, also zu beweisen, dass das Wirtshaus ein Ort mit gesundheitspolitischer Relevanz ist?

Einerseits gibt es schon Daten, die die positiven Gesundheitseffekte sozialer Begegnungen belegen. Darüber hinaus könnte man schauen, ob es irgendwo ein natürliches Experiment gibt. Also zwei vergleichbare Orte zum Beispiel, auch vom Wohlstandslevel her, weil wir wissen, dass sich der sozioökonomische Status auch auf die Lebenserwartung auswirkt. In einem gibt es noch ein Kaffeehaus oder Wirtshaus, und in dem anderen nicht mehr. Möglich wäre es also schon.


Barbara Prainsack, Politikwissenschaftlerin, Autorin und Professorin an der Uni Wien, forscht im In- und Ausland u.a. zu Medizin und Gesundheitspolitik und schreibt: „Wofür wir arbeiten“ (2023) – fundiert, mit Weitblick, eloquent, empathisch und auf höchstem internationalen Niveau.

Weiterführende Informationen rund um das Thema bedingungsloses Grundeinkommen finden Sie u.a. in den beiden Publikationen von Barbara Prainsack: „Vom Wert des Menschen“ (2020) und „Wofür wir arbeiten“ (2023).